Tannezäpfle

Was braucht es eigentlich, um in Berlin endlich ein Zimmer in einer WG zu bekommen? Kai ist ratlos, bis sein Freund Tom eine ungewöhnliche Idee hat…

Tina Lauer

24. März 2020

„So…“ Missbilligend deutet Tom auf die Klamotten seines Gegenübers: „…willst du dir allen Ernstes das Zimmer anschauen?“

„Wieso? Isch da ebbis falsch dra?“ antwortet dieser und blickt ein wenig unsicher an sich herab: Die ausgewaschene Jeans fällt lässig über die schwarzen Cowboy-Stiefel. Kais lange Haare liegen strähnig auf seinen Schultern, die von seinem Iron Maiden-T-Shirt bedeckt sind.

Tom schüttelt den Kopf und schürzt die Lippen: „Mensch, dit is Berlin!“ Tom ist zwar kein Berliner, aber seitdem er vor 5 Jahren hierhergezogen ist, tut er gerne so, als wäre er hier geboren.

„Un in Berlin hört ma kei Metall, oder wa?“ Tom schüttelt kaum merklich den Kopf, nimmt seinen Tabak von der Anrichte und dreht sich eine Zigarette.

„I zieh mir doch wege so nem Zimmer nix anderes a – wenn di mi net wolle, solle se mir de Buckel nab rutsche!“ fügt Kai hinzu. Neben Unverständnis schwingt nun auch ein wenig Verärgerung in Kais Ton mit. Tom reicht seinem alten Freund den Tabak, der sich ebenfalls eine dreht. Einen Moment bastelt Tom an möglichen Sätzen, um Kai zu erklären, was Sache ist. Doch als er sieht, wie sein alter Freund erneut an sich herabschaut und traurig sein geliebtes T-Shirt beäugt, beschließt er stattdessen still zu bleiben und Kai seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

Nach dem Frühstück macht sich Kai auf den Weg. Als er am Vortag in Berlin angekommen ist, hat ihn Tom mit dem Auto abgeholt. Nun braucht er eine Weile, bis er das Netz der unterschiedlichen U- und S-Bahnen, Bussen und Trams verstanden hat. In Schonach im Schwarzwald fährt nur ein Bus und hält an genau drei Haltestellen. Doch Kai gefällt die Herausforderung, sich in der riesigen, fremden Stadt zurecht finden zu müssen. Bei seiner ersten Wohnungsbesichtigung trifft Kai auf einen „Flat-Earther“, der davon überzeugt ist, dass er mit wenigen Tropfen seines Blutes die Welt retten könne. Kai verlässt kopfschüttelnd die Wohnung. Die zweite Besichtigung verläuft etwas besser. Allerdings nur hinsichtlich der geistlichen Gesundheit seiner potenziellen Mitbewohner: Ein Mädel mit fester Zahnspange, neongelbem Stirnband und rosa Pulli öffnet die Tür und zieht bei Kais Anblick missbilligend die Augenbrauen hoch. Dann läuft sie, ohne Höflichkeitsfloskeln zu verlieren, vor ihm durch den Flur. In der spartanisch eingerichteten Küche sitzen zwei Jungs an einem Holztisch. Einer von beiden murmelt ein „Hi“, der andere blickt ihn ähnlich desinteressiert an, wie seine Mitbewohnerin. Das Mädchen setzt sich auf den letzten freien Stuhl und zündet sich eine Zigarette an. Kai lehnt sich an die Wand neben der Espressomaschine und versucht es mit einem Neustart:

„Hallo, I bin de Kai und wollt mich aufs Zimma bewerbe.“ Sagt er so freundlich wie möglich und erntet dennoch nur angewiderte Blicke. Die nächsten Minuten versucht Kai zu erklären, dass er aus Baden-Württemberg kommt und nicht aus dem gefürchteten „Polizeistaat“ Bayern und dass er KFZ-Mechaniker ist, der für ein Jahr bei einem Bekannten in dessen Motorradgeschäft arbeiten möchte. In Kais Erinnerung werden diese Minuten für immer als die längsten seines Lebens abgespeichert sein.

Als Kai auch die nächsten beiden Wohnungen erfolglos und mit einem seltsamen Fremdheitsgefühl verlässt, wird ihm klar, dass irgendwas nicht stimmt. Die irritierten, gar angewiderten Blicke der Personen, die er im Laufe des Tages zu beeindrucken suchte, kreisen in seinem Kopf. Auch wenn er die meisten von ihnen für „Dummbeudel“ hielt und er dank seines schielenden linken Auges bereits als Kind gelernt hat, sich gegenüber gehässigen Mitmenschen durchzusetzen, perlen non-verbale Beleidigungen auch an ihm nicht einfach so ab. Außerdem braucht er dringend ein Zimmer, um die Gastfreundschaft seines Freundes nicht noch weiter zu strapazieren – oder wie seine Mutter zu sagen pflegte: „Gude Gäscht sin selle, die au bald wieder gänget!“

Am Abend sitzen Kai und Tom auf der Dachterrasse und blicken über die Dächer der Stadt. Der Horizont ist von dutzenden Baukränen übersät und hinter dem Fernsehturm taucht die untergehende Sonne den Himmel in ein kitschiges Rosa. Obwohl Kai die Stadt nicht ganz geheuer ist, fasziniert sie ihn gleichermaßen. Trotz der merkwürdigen und ablehnenden Erfahrungen des heutigen Tages möchte er das Jahr in dem Bikerladen unbedingt durchziehen. Aber dafür braucht er erst einmal eine Bleibe.

Das zweite Bier ist fast ausgetrunken, als Kai sich zu der Frage durchgerungen hat:

„Jetz sag scho was I andersch mache soll…“ er deutet an sich hinab „…I finds zwar scheiße, aber wenn I nur a Wohnung krieg, wenn I andersch ausseh, dann will I’s jetzt wisse.“ Tom unterdrückt ein Grinsen, nimmt einen tiefen Zug seiner Zigarette und atmet den Rauch langsam wieder aus.

„Also gut“. Er schmeißt die Kippe in eine der leeren Bierflaschen „Aber ich sags dir gleich: es ist nicht nur dein T-Shirt…“ Dann klatscht er in die Hände: „Fangen wir vorne an: Was fällt dir zu den 90er Jahren ein?“ Die nächsten Minuten werden zu einem Referat über die Hipster-Welt Berlins. Tom lässt nichts aus – weder krude modische Details, noch den berüchtigten, wie faden Mate-Tee; weder die berühmten Jute-Beutel, noch die dicken Rotzbremsen und Kinn-Bärte. Letztere kennt Kai nur vom Alm-Öhi und von seinen jüdisch-orthodoxen Verwandten in Jerusalem. Tom versucht dem Freund klar zu machen, dass nicht nur sein Outfit, sondern auch sein Dialekt absolut inakzeptabel seien, wolle er in dieser Stadt, in einem halbwegs respektablen Kiez, Fuß fassen. Allein seine Herkunft schreit nach „Gentrifizierung“ und „Kohle“, auch wenn nichts davon nur ansatzweise mit der Wahrheit Schritt halten kann. Doch Tom arbeitet bereits an einem Plan. In seinem Kopf formiert er eine Vorher-Nachher-Show, die die TV-Diktatorin Klum alt aussehen lassen würde.

In Kai sträubt sich alles gegen diese absurde Verwandlungskiste. Erst als er es als eine Rolle in einem Stück begreift, das „Finde ein WG-Zimmer“ heißt und in einer Stadt spielt, in die jedes Jahr über 40.000 Menschen ziehen, weicht sein innerer Widerstand auf.

Am nächsten Morgen erwacht Kai mit einem Kater. Die letzten Schnäpse des Vorabends hätte er besser sein gelassen. Er will sich gerade noch einmal umdrehen und weiterschlafen, als ihn etwas Nasses unsanft am Kopf trifft.

„Ey, was soll des?“ schreit Kai und wirft den Waschlappen angewidert in die Ecke. Tom grinst unverschämt und zwinkert ihm zu:

„Komm steh auf, wir schwitzen den Scheiss raus!“ Erst nachdem Kai sich den Schlaf aus den Augen gerieben und seine Brille aufgesetzt hat, bemerkt er Toms Joggingdress. Mit einem Stöhnen lässt er sich noch einmal aufs Bett zurückfallen und zieht sich das Kissen übers Gesicht.

Die sportliche Frühstücksrunde wird zu einem Kraftakt. Kai kann seinem Kumpel nur mit viel Mühe und Schweiß folgen. Gerade als er sich zur Kapitulation durchgerungen hat, bleibt Tom jedoch vor einem Café stehen und hält seinem Freund die Tür auf. Kai stolpert dehydriert in die Rösterei und läuft beinahe gegen einen Poller, der verhindern soll, dass sich hier Eltern mit Kinderwägen niederlassen. Er setzt sich an einen freien Tisch, während Tom bereits Richtung Tresen verschwunden ist. Der Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen strömt in Kais Nase und hinterlässt ein wohliges Sehnsuchtsgefühl. Als Tom mit dem frisch aufgebrühten Filterkaffee ankommt stutzt Kai, nimmt ihn aber schließlich dankend an. Er hatte eigentlich mit Espresso aus italienischer Röstung gerechnet, begreift aber schnell, dass der gute alte Filterkaffee in Berlin wohl der neue Espresso ist.

„Wir sind nicht zufällig hier“ sagt Tom nach einigen Schlucken der – zugegebenermaßen – äußerst leckeren schwarzen Flüssigkeit: „Sozialstudie“ fügt er hinzu und deutet unauffällig auf die anwesenden Personen. Kai lässt seinen Blick durch den Raum schweifen: An einem der Tische sitzen drei Mädels und starren auf ihre Smartphones. Alle drei tragen enge Birnenhosen, die man früher nur „Hochwasser-Hosen“ genannt hat. Dazu glitzernde, neonfarbene Socken und bunte Pullover mit knalligen Aufdrucken, die sie in ihren Hosenbund gestopft haben. Zwei von ihnen haben tatsächlich eine Dauerwelle. Der dritten hängen die fettigen Haare glatt herab und sind an einer Seite mit bunten Haarspangen übers Ohr weggeklippt. Einen Tisch weiter sitzt ein Junge mit Vollbart und Schlapphut hinter einem Macbook. Daneben sitzt ein Mädchen, das ebenfalls stoisch auf sein Smartphone starrt. Mit einer Hand zwirbelt sie ihre strähnigen Haare und verstaut sie hinter ihren Ohren, die eine Hornbrille tragen, auf die Nana Mouskouri neidisch wäre. Leider hat sie ansonsten wenig Ähnlichkeit mit der griechischen Gesangsgöttin, denkt Kai, und scannt die restlichen Anwesenden, einschließlich des Personals, das ausschließlich Englisch spricht.

„Un nu?“ fragt er, als sein Blick wieder bei Tom angekommen ist.

„Na was wohl?!“ fragt dieser und steht auf. Kai muss sich beeilen, nicht den Anschluss zu verlieren.

Am Abend erblickt Kai im Spiegel von Toms Wohnung einen Mann, der nur noch geringe Ähnlichkeit mit ihm aufweist: Seine Haare sind sauber auf zweidrittel der Länge gekürzt, nach hinten gegelt und an den Seiten getrimmt. Seine Barthaare gedeihen hingegen ungehindert und glänzen ob des speziellen Pflegeöls. Er trägt ein feines blau-weiß kariertes Hemd – bis oben zugeknöpft – das an den Armen hochgekrempelt ist und seine Arm-Tattoos freigibt. Seine Beine stecken in adretten dunkelblauen Jeans, die über die Knöchel hochgekrempelt sind und rote Socken über braunen Lederschuhen sichtbar werden lassen.

„Jetzt noch einmal“ Die Strenge in Toms Stimme holt ihn aus seinem Tagtraum zurück. „Und gib dir dieses Mal etwas mehr Mühe!“ Kai seufzt und bemüht sich redlich, den Satz in gestochen scharfem Hochdeutsch zu wiederholen:

„Es griand so grian, wenn Kreuzbergs Bliäte bliäe“ Mit dem letzten Wort spuckt er den Tischtennisball aus, der grade noch zwischen seinen Zähnen hing. Er hüpft noch ein paar Mal durch den Flur und kommt dann wie Kais Tatendrang zum totalen Stillstand:

„Checks endlich Alter, I bin eifach kei Eliza Doolittle! Bei mia isch Hopfe un Malz verlore.“ brummt Kai und läuft mit hängenden Schultern an Tom vorbei in die Küche, um sich ein Bier zu holen.

Später sitzen die beiden Freunde wortlos nebeneinander auf dem Sofa und nuckeln an ihren Bierflaschen.

„Ich glaub, ich hab‘ eine Idee!“ sagt Tom schließlich in die Stille hinein und reckt seinen Finger wie Wicki in die Höhe.

Der Typ, der Kai am nächsten Tag die Tür öffnet, ist etwa so alt wie er, trägt einen Hipster-Schnauzer, Hipster-Mütze, Hipster-Hose und Hipster-Socken.

„Hi, Im Kai, Im interested in the room“ sagt Kai, überlegend grinsend. Der Plan so einfach wie kompliziert: Kai soll solange den Erasmus-Studenten mit dem schlechten Englisch aus Tschechien spielen, bis ihm seine Lüge keiner mehr übelnimmt, oder seine Zeit in Berlin vorbei ist. Tschechien deshalb, weil er hofft, so schnell auf keinen Tschechen zu treffen, der ihn entlarven könnte. Ben reicht ihm lächelnd die Hand und begleitet ihn ins Wohnzimmer. Dort sitzt ein hübsches Küken mit Mandelaugen und Hipster-Brille. Auch sie reicht ihm lächelnd die Hand und Kai fühlt sich in einen Kreis aufgenommen, von dem er bis vor ein paar Tagen noch nicht einmal wusste, dass er existiert.

Wie eine zweite Haut trägt er seine Verkleidung, die ihm den Eintritt in ein Leben in Berlin ermöglicht. Im Gegensatz zu seinen Großeltern hat es weder etwas Heroisches, noch kämpft er auch nur ansatzweise um seine Existenz oder gar ums nackte Überleben – dennoch macht ihn der Gedanke nachdenklich, dass ihm allein ein anderes Aussehen und eine andere Sprache Türen öffnen, die vor Anderen aus denselben Gründen zugeschlagen werden.

Den Vertrag unterschreibt er bereits zwei Tage später bei einem Espresso, der besser schmeckt als alle, die Kai je zuvor getrunken hat.

„Please excuse it‘s just simple Espresso and not a good black german Kaffee – but it’s fairtrade and organic“ sagt Ben, der ebenfalls kein Deutscher ist.

Als Kai am Nachmittag seine Sachen aus Toms Bude holt und die Wohnungstür aufschließt, hört er Ben leise telefonieren. Er möchte nicht lauschen, aber die Klänge kommen ihm seltsam bekannt vor. Er stellt seinen Rucksack ab und schleicht sich an Bens Zimmertür, die einen Spalt breit offensteht.

„I muss jetzt ufhöre Mamme – de neue kommt gli…“ und einen Moment später: „Nei Mamme, nei – sag I doch… gell? Jetzt aba adde… joa, adde!“ als Ben aufgelegt hat, kann Kai es nicht mehr unterdrücken und brustet laut los. Ben öffnet die Tür und starrt ihn an.

„I glaub wir gange jetzt erscht mol a Tannezäpfle sufe und dann erzählsch mir mol, wo du na gehärsch“ lacht Kai in das verdutzte Gesicht von Ben, der eigentlich Benjamin Armbruster heißt und aus Waldkirch bei Freiburg kommt.“

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© „Tannezäpfle“, Kurzgeschichte von Tina Lauer, 24.03.2020

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